Das Buch das ich mir ausleihen wollte, sollte eigentlich genau da stehen, wo die handbreite Lücke war. Es war gar nicht möglich das es dort nicht stand, denn am Computer war es als “verfügbar – Freihand” markiert. “Es sei denn…”, ich blickte nach links und nach rechts. Am Ende des Gangs bog jemand mit einem Buch in der Hand um die Ecke. Ich wollte behaupten, das Cover erkannt zu haben, aber ich war mir nicht hundertprozentig sicher. Ich konnte es nicht fassen, “hat sie hier gerade mein Buch als eins von fünfzigtausend in dieser Bibliothek ausgesucht?”
Du musst wissen, an sich bin ich nicht jemand, der sich über so etwas aufregen würde, doch ich hatte genau mit vier Büchern geplant. Vier Wochen Ausleihfrist, vier Bücher. Eins pro Woche und in vier Wochen wieder Therapie. Wenn ich auf dem Weg zur Therapie in die Bibliothek gehe, spare ich mindestens vierzig Minuten an Bahnfahren. Und das ist nur die Zeit, die ich spare, ganz abgesehen von dem Aufwand, mich daran zu erinnern, die Bücher wieder rechtzeitig zurückzugeben. Ich hatte extra vor dem Losgehen noch nachgeguckt, welche Bücher ich ausleihen wollte, und mir sogar die Nummern aufgeschrieben (natürlich in der Reihenfolge für den kürzesten Weg).
Doch jetzt, jetzt war der ganze Plan zusammengebrochen durch diesen, ja eigentlich fast schon Diebstahl, mit einer eins zu fünfzigtausend Chance.
Mit dem Gedanken, dass es außerhalb meiner Kontrolle war, probierte ich mich zu beruhigen. Ich begab mich mit meinen drei Büchern in den Lesesaal und klappte das erste auf. Ich rutschte über Buchstaben, aber die Wörter erreichten nicht meine Gedanken. Es war komplett aussichtslos, denn meine Aufmerksamkeit wurde gezogen, immer wieder zu der Person zwei Reihen vorne und eine rechts von mir. Jetzt war ich mir sicher, dass sie es war, die mein Buch genommen hatte. Es lag neben ihr auf dem Tisch, sie las es noch nicht einmal, sondern hatte ein anderes Buch in der Hand. Als würde sie sich über mich lustig machen. Es lag ganz oben auf einem Stapel auf zwei anderen Büchern, während sie das vierte vor ihrem Gesicht hielt.

Ich klappte mein Buch zweiter Wahl wieder zu und machte mich auf den Weg zur U-Bahn. An dem Tag war das Wetter unberechenbar. Vom schüttenden Regen am Morgen war es komplett umgeschwungen, und ich begann in meiner dicken Jacke zu schwitzen.
Der U-Bahn-Wagon war eine gespiegelte zwei mal drei, vier mal vier Sitzkonfiguration. Zum Glück war ein Vierer komplett leer. Ich setze mich ungern hin, wenn zu wenige Plätze frei sind. Denn dann muss ich bei jeder Haltestelle aufpassen, ob jemand einsteigt, dem ich meinen Platz anbieten sollte. Ich habe gelernt, nicht jeder Person, die älter aussieht, einen Platz anzubieten, manche wollen nicht an ihr Alter erinnert werden und die Geste kränkt sie. Das macht das ganze Thema sehr viel komplizierter. Ich erspare mir das gerne, indem ich einfach stehen bleibe.
Das rote Licht blinkte auf und die Tür schloss sich. Es sprang jemand durch den schließenden Spalt in den Wagon und blieb schwer atmend stehen. Ich erkannte die Buchdiebin sofort wieder. Sie blieb im Gang stehen und blickte durch den Wagon, als würde sie freie Sitzplätze zählen. Dann setzte sie sich in meinen Vierer, schräg gegenüber von mir. Ich unterdrückte das Verlangen einen moment, aber dann platzte es aus mir heraus.
“Sorry”, sagte ich zu ihr, “hast du gerade den ‘Steppenwolf’ von Hesse ausgeliehen?”
Sie blickte mich einen Moment an, vermutlich um einzuschätzen, ob ich eine Gefahr darstellte, doch sie bemerkte schnell, dass dies nicht der Fall war. Es ist schon eine ganze Weile her gewesen, dass ich eine Muckibude betreten habe.
“Ja, wieso?”
“Ach, alles gut,” ich winkte ab, “ich wollte das Buch auch lesen, aber du warst schneller.”
Sie lächelte freundlich, um mir zu signalisieren, dass das Gespräch beendet war. Ich nickte als Zeichen des Verstehens und guckte in meine Tasche nach etwas zu lesen. Ich nahm das erstbeste Buch heraus, und sie guckte mir dabei zu.
“Das fand ich echt langweilig,” sie nickte mit dem Kinn auf das Buch in meiner Hand, “spar dir lieber die Zeit.”
“Der Fall?” ich hielt das Buch hoch.
“Ja, genau. Da passiert einfach gar nichts. Man merkt voll, dass Kafka Jura studiert hat.”
Ich nickte, “mir hat ‘Die Verwandlung’ gefallen. Hast du das auch gelesen?”
“Das war gut, aber irgendwie das einzige von ihm, was mir gefallen hat.”
“Die erste wirklich gute Beschreibung von Depression, die ich gelesen habe,” wandte ich ein und stützte den Ellenbogen am Fensterbrett ab.
Ich traute mich das erste Mal, sie richtig anzusehen. Sie hatte etwas an sich das mich neugierig machte, ich konnte aber nicht genau sagen was. Wir tauschten noch ein paar Worte aus, dann Sie griff nach ihrer vollen Tasche, “war schön zu plaudern -“
“Ja, wollen wir uns mal treffen?”
“Hab echt viel zu tun gerade,” sie stand auf und blickte zur Tür, wir fuhren gerade in die Station ein, “am Samstag geh ich mit Freunden in ne Bar, Lust mitzukommen?”
“Das klingt sehr gut, wann und wo?”
“Im Feuermelder am Boxi, sagen wir so um neun?”
Sie war schon fast aus der Tür.
Ich lehnte mich ein Stück aus dem Vierer, “alles klar, bis dann.”
Die Bahn fuhr an ihr vorbei, sie schob sich gerade an zwei Touristen vorbei und setzte ihre Kopfhörer auf. Meine Augen folgten ihr, aber sie guckte nicht mehr zu mir hoch.

An dem Samstag kam Ich zu spät in die Bar. Ich bestellte ein Wein und guckte mich um. Sie saß in einer Ecke umringt von vier Freunden. Ich stellte mich ihnen vor, war aber noch in Gedanken und hörte nicht richtig zu. Es ging sowieso vor allem um Namen, mit denen ich keine Gesichter verband. Personen, die man lange nicht mehr gesehen hatte, zerbrochene Beziehungen, wo man eh schon wusste, dass sie nichts werden würden, und ehemalige Freunde mit eskalierenden Drogenproblemen.
Ich nippte an meinem Glas, in der Bar waren sechsundzwanzig Leute, fast Hälfte/Hälfte in vor allem schwarzen Klamotten. Mir fiel niemand besonders auf.
Als wir später im Club waren wechselten wir nicht viel mehr Worte. Wir tanzten ein bisschen nebeneinander und es war offensichtlich, dass sie viel und gerne tanzte. Wir tauschten Kontakte aus, doch sie meinte, dass sie erst mal ne weile nicht in Berlin sei.
Nach der Nacht hörte für ein paar Wochen nichts mehr von ihr und sie verschwand aus meinen Gedanken. Einmal hatte ich noch an sie gedacht, als ich das Buch ‘Der Fall’ weglegte. Es war mir, wie sie schon gewarnt hatte, einfach zu langweilig gewesen.

Vielleicht zwei Wochen danach brach ich wieder auf eine Reise auf. An dem Tag war ich schneller gewesen mit dem Packen, als ich erwartet hatte. Ich wollte aber so spontan nicht mehr irgendjemanden anrufen, von dem ich mich schon verabschiedet hatte, und entschied mich einfach, alleine in die Nacht zu stürzen. Als ich sie zufällig wieder traf. Sie wollte eigentlich nach Hause, ließ sich aber gerne zu einem Getränk überreden.
Sie erzählte eine überaus spannende und dramatische Geschichte von ihrer letzten Reise. Ich kann sie nicht richtig wieder erzählen, aber erinnere mich an einen gebrochenen Mast vor der Küste Panamas, ein gestohlenes Handy, einen Krankenhausaufenthalt und noch kleineren Fetzen hier und da. Doch das ist eine Geschichte, die sie dir selber viel besser erzählen kann.
Am besten gefiel mir ihre visuelle Erzählweise. Die Szenen und Bilder die sie in meinem Kopf entstehen ließ. Und dazu ihre energischen Gesten. Einmal ging jemand mit vollem Glas zu nah an uns vorbei, ihre Hand zischte gerade durch die Luft und das Bier spritzte über den Boden. Sie sah keinerlei Schuld in der Sache ein, und der Typ ging verärgert weiter. An dem Abend waren Wir noch lange unterwegs, haben ein Falafel gegessen und saßen noch vor einem Späti. Es gab immer mehr ruhige Momente in dem Gespräch, nicht weil es nicht genug Themen gab, über die wir uns unterhalten wollten, sondern weil wir einfach zu müde waren, um zu erzählen.
Wir verabschiedeten uns mit einer langen Umarmung. Wir standen einfach nur da, während die Ampel grün, rot und wieder grün wurde. Die Leute gingen um uns herum und guckten, doch es war mir egal.

Unterwegs auf meiner Reise war ich beschäftigt und hatte nicht den Gedanken sie mal anzurufen. Und hatte seit dem Abend nichts mehr von ihr gehört. Es war fantastisch gewesen, ich habe viele neue Freunde kennengelernt, war viel tanzen und habe am Strand gelegen.
“Viele Arten von Zugvögeln sind sehr mobil und haben kein festes Zuhause. Stattdessen bewegen sie sich das ganze Jahr über zwischen verschiedenen Regionen, je nach Verfügbarkeit von Nahrung und geeigneten Lebensräumen. Dieser nomadische Lebensstil ermöglicht es ihnen, saisonale Ressourcen zu nutzen und harte Umweltbedingungen zu vermeiden.”
Berthold, P. (2001). Bird Migration: A General Survey. Oxford University Press.
Wie ich wieder nach Hause kam, gab es viel zu tun. Verpflichtungen, die während meiner Reise warten mussten, waren nun umso dringlicher. Ich traf mich mit Freunden, die ich länger nicht mehr gesehen hatte, und entschuldigte mich für unbeantwortete Nachrichten. Perso erneuern, Arzttermine, und so weiter.
Als sich das Chaos legte ging ich wieder in die Bibliothek. Ich wollte immer noch den ‘Steppenwolf’ lesen, den sie mir damals vor der Nase weggeschnappt hatte. Diesmal war aber alles sehr viel weniger ereignisreich. In dem Regal, in der Buchreihe, genau dort, wo ich zuvor die Lücke vorgefunden hatte, lag diesmal das Buch.
Ich legte ab und zu Pausen beim Lesen ein, wechselte für ein paar Tage zu anderen Büchern, die ich gemeinsam ausgeliehen hatte, deshalb erreichte ich erst das Ende ein paar Wochen später. Ich hatte gerade den letzten Satz gelesen und stellte mich auf eine Weile gedankenvolles Schweigen ein, als ich ganz zu meiner Überraschung bemerkte, dass die letzte halbe Seite nicht leer war. In schwungvoller Schreibschrift war dort eine Notiz hinterlassen worden. Das an sich war jedoch nicht, was mich überraschte. Ich sehe oft kleine Notizen an den Seitenrändern, mit spitzem Bleistift Übersetzungen, Wörterbucheinträge, lange Ausrufezeichen oder kleine Fragezeichen.
Doch diese Notiz auf der letzten Seite begann mit meinem Namen. Ich klappte das Buch zu atmete tief durch und klappte es wieder auf. Ich blätterte zur letzten Seite doch mein Name stand immer noch da.
Darunter, in der gleichen Schrift, “Ich hoffe dir hat das Buch auch gefallen. Lass uns doch mal wieder einen Wein trinken.”
Berlin, 8. Juni 2025